Uncategorized

Warum Online-Petitionen (doch) etwas bewegen

Dies ist eine Replik auf einen Artikel von Thomas Moßberger auf Focus Online. Nach der Brexit-Entscheidung schrieb er, dass Online-Petitionen nutzlos seien. Unser Campaigner Sebastian Schütz hält dagegen.

Die Petitionen zur Entscheidung der Mehrheit der britischen Bevölkerung, die EU zu verlassen, sind in aller Munde. Über 4 Millionen Menschen zeichneten eine Petition auf der Seite der britischen Regierung, das Referendum zu wiederholen. Über 400 Kampagnen wurden auf Change.org im Nachgang der Entscheidung gestartet – mit Forderungen zur Herabsetzung des Wahlalters auf 16 oder für ein Zeichen gegen den nun vielerorts emportretenden Rassismus – gestartet von einer jungen Muslima.

Zugang zu Beteiligung zu haben ist ein Wert an sich in unserer Demokratie

Millionen Menschen nutzen heute Kampagnen, um sich zu beteiligen – es sollte also nicht verwundern, dass ein solch historischer Einschnitt wie der Brexit zu mehr bürgerlichem Engagement führt. Als Beteiligungsform haben sich Online-Petitionen etabliert. Sie sind das effektivste Mobilisierungsinstrument für jede und jeden, um sich gesellschaftlich zu organisieren. Einfachen Zugang zu Beteiligung zu haben ist ein Wert an sich in unserer Demokratie. Und Online-Kampagnen zu starten ist erst einmal einfach. Aber nur auf den ersten Blick: Wie bei jedem Instrument kommt es darauf an, was man mit ihm macht.

Die Unterschrift unter Online-Petitionen ist immer nur der erste Schritt einer Kampagne – ein Anfang nicht ihr Ende. Online-Petitionen deshalb anderen Protestformen gegenüberzustellen ist daher nicht sinnvoll, denn sie gehen häufig Hand in Hand. Gerade Zeichnerinnen und Zeichner der Kampagnen werden bei nächsten Schritten aktiv, denn sie können aktiv hingewiesen und zur Teilnahme überzeugt werden.

Nehmen wir die Matrix der belgischen Forscher Jeroen van Laer und Peter van Aelstauf: Das Modell unterscheidet mehrere Aktionsformen nach ihrem Organisationsaufwand sowie der Gegenüberstellung online und offline.


Das Modell limitiert sich damit selbst: Es blendet aus, dass viele Aktionen im öffentlichen Raum heute online geplant werden.

Das möchte ich an 3 Beispielen erklären:

1. Email Bomb – Entscheidungsträger/innen erhalten in kurzer Zeit viele E-Mails von Bürgerinnen und Bürgern:

Die Oldenburgerin Ruth Bensmail sammelte mehrere zehntausend Unterschriften für die Einbürgerung des aus Afghanistan geflüchteten Martin Qassemi, den sie vor 8 Jahren wie einen Sohn in ihrer Familie aufgenommen hatte.

Die Behörden spielten die Zahl der Unterschriften herunter: „Schnell geklickt, ohne persönlichen Bezug.“ Daraufhin bat Ruth die Mitzeichner/innen persönliche E-Mails an den Oberbürgermeister der Stadt Oldenburg zu senden. Hunderte nahmen an der Aktion teil und schilderten, warum sie sich für Martin stark machen. Sie lieferten ferner Argumente für eine Ausnahmeregelung und posteten ihre Nachrichten an den Oberbürgermeister auch öffentlich, um andere zu inspirieren an der Aktion teilzunehmen. Ruth Bensmail wiederholte ähnliche Aktionen regelmäßig, um den Druck für ihre Forderung aufrechtzuerhalten. Sie organisierte eine Foto-Aktion und regelmäßige „Facebook Bombs” auf den Profilen verantwortlicher Politiker, um die bundesweite Unterstützung sichtbar zu machen.

2) Spenden, Website & ziviler Ungehorsam:

In der Praxis würden die von van Laer und van Aelst isoliert voneinander angelegten Aktionen aufeinander folgen wie ein Kreislauf.
Wer eine Demonstration vor dem Deutschen Bundestag organisieren oder Spenden für die Finanzierung einer Kampagne sammeln will, für den ist eine Gemeinschaft von Menschen, die ein Anliegen mittragen, Gold wert. Diese Gemeinschaft erst ermöglicht eine wirkungsvolle Mobilisierung. Wie das funktionieren kann, zeigt die Kampagne für ein „Recht auf Sparen und ein gutes #Teilhabegesetz“ von Constantin Grosch und Raul Krauthausen.

Über drei Jahre hinweg bauten sie diese Gemeinschaft über ihre Online-Petition auf. Mithilfe mehrerer dann aufgebauter Kampagnen-Seiten (teilhabegesetz.de, nichtmeingesetz.de) regen sie kontinuierlich die über 330.000 Unterstützer/innen zur Teilnahme an weiteren Aktionen an, versenden Pressemitteilungen und sammeln Spenden um die Kampagne zu finanzieren. Mittlerweile organisieren die beiden Aktivisten auf Twitter unter dem Hashtag #NichtMeinGesetz Aktionen, wie die Ankettung vor dem Bundestag, um gegen den aktuellen Entwurf zu protestieren. Über ihre Petition verbreitet sich der Protest rasant in den sozialen Netzwerken. Die Petition ist für die beiden somit zu einem reichweitenstarken Sprachrohr geworden.

3) Konsumentenverhalten:

Auch bei Kampagnen rund um Verbraucher-Themen sehen wir immer wieder, dass  unterschiedliche Strategien zusammenfließen. Die Petition der US-Amerikanerin Sarah Kavanagh wäre als reine Unterschriftensammlung vielleicht verhallt. Sie forderte den Sportgetränkehersteller Gatorade auf, in Zukunft auf bestimmte Chemikalien zu verzichten.

Als sie ihre über 200.000 Unterstützer/innen anschrieb, entsprechende Drinks zu prüfen und ggf. zu boykottieren, lenkte der Konzern ein. Sarah war kurze Zeit später mit ihrer Strategie auch bei Powerade erfolgreich.

Sich bei der Einschätzung der Wirkung einer Online-Petition allein auf die Unterschriftensammlung zu beschränken greift daher zu kurz. Es kommt vielmehr auf ein Zusammenwirken unterschiedlicher Protestformen an. Eine große Rolle spielen dabei die Menschen hinter einer Kampagne, ihre Kreativität und vor allem ihr Durchhaltevermögen. Selbst wenn Online-Petitionen länger brauchen, um zum Erfolg zu führen, bringen sie Menschen an den Verhandlungstisch, die sonst wahrscheinlich überhört würden und setzen Themen, die zuvor keine Rolle gespielt haben.

Dieser Debattenbeitrag erschien zuerst bei Focus Online.

Written by
Change.org
Juli 11, 2016 1:49 pm